Der zweite Fahrtabschnitt:
Im Hochland zum Herz der Einsamkeit

Donnerstag, der 24. 6. 1999, Mittsommernacht
Der Regen prasselt mit heftiger Wucht auf das Dach unserer Hütte. Die Landschaft rings um den Tarreluoppal ertrinkt im Wasser. Nichts sieht danach aus, als sollten sich die Schleusen des Himmels in absehbarer Zeit wieder schließen, geschweige denn eine deutliche Wetteränderung eintreten. Uns stört das alles nicht. Gestern hatten wir uns darauf verständigt, erst einmal auszuschlafen und danach zu entscheiden, ob wir heute weitergehen oder einen wohlverdienten Ausruhtag einlegen wollen. Jetzt scheint es, als wolle uns das Wetter diese Entscheidung abnehmen.

Obwohl schon halb zehn Uhr durch ist, bin ich der einzige Wache hier. Alle anderen schlafen oder dösen noch in ihren Schlafsäcken. Über dem Gasofen am Fenster hängen diverse Wäschestücke zum trocknen. Frederik, Michael und andere hatten gestern Abend noch die Gunst der Stunde genutzt und ihre Garnituren gewaschen. Ansonsten sieht es in der Hütte recht chaotisch aus. Auf der Küchenbank Kochtöpfe in allen Größen und der hier unvermeidliche Wasserschöpfeimer in friedlicher Eintracht neben unserem Trangia und von gestern Abend gespülten Tassen und Löffeln. Auf dem Tisch: ein Norwegisch-Wörterbuch, ein Kulturbeutel, Tee, ein Logbuch samt Stift, unser einziges Liederbuch, eine Hose, das Stimmgerät, ein Kartenspiel. Zeugen des gestrigen Abends. Auf dem Boden verstreut Rucksäcke, halb ausgepackt und auf ihren Isomatten Philipp und Sascha. Angesichts des Regens draußen ein urgemütlicher Zustand.

Stunden später immer noch dasselbe Bild. Nach dem Frühstück das Mittagessen. Weiter Regen. Wir gammeln, es wird Gitarre gespielt, Karten gespielt. Karte beschaut und geschlafen. Ein Ruhetag, den wir uns verdient haben. Gegen Mittag gehe ich nach draußen, um zu navigieren. Leider ist auf den schwedischen Karten eine recht ungenaue Mißweisungsangabe eingetragen. Ich brauche lange, um mit Hilfe einer Kreuzpeilung Landschaft, Karte und Kompaß aufeinander einzustellen. Das Ergebnis: 16 ° östl. Mißweisung. Gerade bin ich mit dieser Arbeit fertig, da kommen aus Richtung Staloluokta zwei Wanderer, die in die zweite offene Hütte einziehen. Währenddessen haben Sascha und Michael ein Fahrtenlied geschrieben und gleich auch vertont. Eine gute Beschäftigung für einen Regentag.

Auch der Abend verläuft wie der Tag mit Nichtstun. Eine Ablesung des Höhenmessers/Barometers ergibt 934 mbar bei 7 °C Außentemperatur. Uraufführung des Fahrtenlieds. Reis zum Abendessen. Lesen, Logbuch schreiben. Die Petroleumlampe brennt und erfüllt den Raum mit ihrem warmen Licht. Trotz Mittsommernacht ist es in der Hütte relativ dunkel.

Zwischenbilanz: trotz andauerndem leichten Hungergefühl ist die Ernährungssituation ausreichend. Trotz schweren Tagesmärschen sind wir bislang im Plan und gut vorangekommen. Trotz überwiegend schlechtem Wetter sind wir warm und trocken. Soll noch einer behaupten, wir kämen hier nicht durch!

Freitag, der 25. 6. 1999
Die Ärmel der Kluft sind hochgekrempelt. Über dem Tjekinjaure flimmert die Luft. Wir liegen faul ausgestreckt an der Sonnenseite einer Hütte der Tuottarstugorna-Fjellstation, die hier wie ein kleines Dorf zwischen zwei Seen in der Sonne liegt. Direkt uns gegenüber, im Südwesten, die steil abfallende Wand des Junkatjåkkå (1560m), der jetzt langsam auch von Wolken frei kommt. Seine Felswände sind zum großen Teil noch mit Schneefeldern bedeckt. Auf einem dieser Schneefelder erkennt man von hier aus eine große, senkrechte, braune Verfärbung, Abgangsstrecke für Steinschlag. Im Vordergrund, zwischen Hütten und Berg, der See, der zum großen Teil noch eisbedeckt ist. In Richtung Westen können wir, bei guter Fernsicht die gletscherbedeckten Gipfel der norwegischen Bergkette zum ersten Mal erkennen.

Der Tag hatte jedoch schlechter begonnen, als das hier beschriebene vermuten läßt. Gegen 8 Uhr Aufstehen. Draußen ist es kalt (7 °C) und ein starker Nordwind weht uns ins Gesicht, wenn wir die Hütte verlassen. Die Wolkendecke ist geschlossen und Nebel umgibt die Berggipfel. Zumindest regnet es nicht mehr am Tarraluoppal. Nach einer Wegerkundung meinerseits entscheiden wir, auf dem Padjelantaleden zu bleiben, da die Alternative am Massiv des Junkatjåkkå vorbei schwer zu begehen und zu finden ist.

Gleich zu Beginn der heutigen Wanderung müssen wir über eine abenteuerliche Brücke den Vassjajåkkå überqueren und dann an der Flanke eines 992 m hohen, namenlosen Vorbergs des Kuotpåråsvare in Richtung Nord, später Nord-West steigen. Dabei ist der Blick zurück ins Tarratal beeindruckend. Trotz Anstiegs von 720 auf 960 m in kürzester Zeit kommen wir gut voran. Irgendwann sind wir dann auch im Nebel, haben aber noch genug Sicht, um gut weiterzukommen. Oben angekommen tauchen wir ein in eine menschen- baum- und strauchlose, nebelverhangene, unwirklich erscheinende Landschaft. Auf den vielen kleinen Seen hier überall Eis. Schneefelder, teils tief, müssen überquert werden. Unsere Stimmung ist gut, teils euphorisch. Trotz des Aufstiegs beschließen wir, an unserem zunächst geplanten Tagesziel Tuottarstugan zu halten, um Mittag zu machen und danach noch in Richtung Staloluokta zu marschieren. Weiter geht´s mit gutem Tempo. Kurz hinter einer Furt (2 °C) reißt der Himmel auf. Endlich wieder Sonne! Das helle Licht gibt der kargen, wild zerklüfteten, mit Bachläufen, Schneefeldern und eisbedeckten Seen und Tümpeln durchsetzten Landschaft den letzten Schliff. Wir fotografieren wie süchtig. Sicht auf die schneebedeckten Berge des Sarek. Der Pfad ist hügelig, der Pflanzenbewuchs beschränkt sich auf Bodenblüher und Gras, kein Strauch zu sehen. Und dann sind wir da: um 14:30 Uhr ist Tuottar erreicht.

Keine 100 m entfernt donnert der Pållaurjåkkå über Felsbänke in einem zweistufigen Wasserfall talwärts. Wir liegen in der Juschke und kämpfen mit dem Rauch des Feuers. Das ist aber hier bitter nötig, denn die Mücken fallen uns an, wie noch nie auf dieser Fahrt. Die Landschaft, in der wir hier lagern ist einmalig: Die Abendsonne aus Nordwesten, hinter der Juschke ein kleiner Teich, in den der Wasserfall hinunterfällt. Dahinter erhebt sich das schneebestückte Massiv des Kierkevare (1571 m). Die Szenerie ist so beeindruckend, daß wir gleich Fotos für scouting machen. Natürlich hochkant, damit´s auch mal für einen Titel reicht :-) .

Nach einer ausgiebigen Pause am Tuottar waren wir gegen 17 Uhr aufgebrochen, um bei dem guten Wetter „noch ein paar Kilometer zu machen". Es sollten nochmals gut 10 km daraus werden. Bereits auf den ersten 500 m war zweimaliges Furten angesagt. Ein zeitaufwendiges Vergnügen: Anhalten, Rucksäcke ab, Wanderschuhe aus, Furtschuhe an, rein in die Kälte, raus aus der Kälte, Futschuhe aus, Füße abtrocknen und anwärmen, Wanderschuhe an und dann weiter. Den weiteren Weg klotzen wir dann. Die Sonne steht uns ins Gesicht. Dann haben wir plötzlich ein Problem: eigentlich mögen wir die Juschke aufstellen, finden aber keinen guten Lagerplatz. Hier scheint plötzlich Wasser zum Trinken Mangelware zu sein. Außerdem überfallen uns hier Mücken in Massen. MyggA aus Stockholm wirkt Wunder. Ohne dieses Mittel und unser qualmendes Feuer könnten wir hier nicht überleben. Wir ziehen also wieter und immer weiter, müssen dabei auch noch manchen Anstieg hinter uns bringen. Niemand realisiert, wie weit wir schon gegangen sind. Da ein Nachtplatz fehlt, müssen wir weiter. Endlich, unterhalb einer auf der Karte eingezeichneten Brücke, die es allerdings nicht mehr gibt, machen wir halt. Und haben mehr als die Hälfte des morgigen Tagesmarsches auch schon hinter uns gebracht.

Rot
Die Mitternachtssonne
Färbt die Schneegipfel.
Ich bewund´re ihre Größe.
Erhabenheit.

Samstag, der 26. 6. 1999
Gegen 9 Uhr lassen wir uns von der auf die Juschke fallenden Sonne in den Schlafsäcken wecken. Es ist warm. Die ersten Mücken sind auch schon wieder da. Blauer Himmel, keine Wolke. Wir beschließen, die Gunst der Stunde zu nutzen und uns und unsere stinkigen Garnituren im Pållaurjåkkå zu waschen. Kaum sind wir am Ufer des Wasserfalls angekommen, haben uns auch die Mücken schon wieder gefunden. Das Waschen wird deshalb auch weniger ein Kampf gegen den inneren Schweinehund und die Kälte des Wassers, als ein Kampf gegen die stetig angreifenden Plagegeister. Kaum sauber, muß man sich auch schon wieder mit Mückenmittel einreiben. Trocknen der frisch gewaschenen Klamotten auf den von der Sonne aufgeheizten Kohtenbahnen. Schon vor dem Aufbruch am heutigen Tag sind wir platt. Liegt es an den gestrigen Kilometern oder der stechenden Sonne?

Die heutige Etappe startet direkt mit der Furt unseres Flusses. Anschließend haben wir zunächst Probleme, den Weg wiederzufinden. Wir gehen im Tal durch mannshohes Gebüsch, über Matsch und feuchte Stellen. Dann wieder auf strauchlosem Grund. Die Sonne brennt, die Oberfläche des Kieddaure an dessen südlichen Ufer wir entlang marschieren, schimmert tiefblau, die umgebenden Hügel sind grün. Nur noch ein kleiner Anstieg und der Blick weitet sich. Wir haben endlich Sicht auf den unglaublich großen Virihaure, unserem Tagesziel. War die Landschaft im Tal leicht eintönig, ist sie nun wieder abwechslungsreich: Schneeberge in Norwegen, die weite Wasserfläche des Viri, bewaldete Hänge, der Kieddajåkkå bildet mehrere Wasserfälle und rauscht in der Ferne. Das Gelände ist hügelig. Hoch oben kleine Seen und Teiche. An der Abzweigung des Wegs nach Norwegen, hoch über dem Viri und Staloluokta auf dem Piedjovaratjah gelegen, machen wir entkräftet halt. Hier wollen wir die Juschke aufstellen. Unser Problem dabei ist aber, daß es hier oben kein Trinkwasser gibt. Kai und ich gehen zurück zu einem kleinen Bergsee. Leider schwimmt mir hier zu viel im Wasser, also Fehlanzeige. Der Juschkenaufbau in der prallen Sonne geht nur schwer voran. Die Mücken werden von einem frischen Lüftchen zurückgehalten. Die Aussicht ist traumhaft. Wir beschließen, mit unserem Mittag- und Abendessen samt Kochern nach Staloluokta abzusteigen, dort zu essen, uns die Samensommersiedlung anzusehen, Wasser zu fassen und dann zurück zu gehen.

Essen am Sandstrand des Viri. Tusk nannte ihn das "Herz der Einsamkeit". Eine treffende Beschreibung. Weit reicht der Blick. Silbern glitzert das Wasser im Sonnenschein. Dazu das stetige Rauschen des Kieddajåkkå, der hier, vom Luoppa kommend, in den Viri mündet. Jede Bewegung fällt uns schwer, mittlerweile habe ich einen guten Sonnenbrand an Armen, Beinen und im Gesicht. Die Mücken versuchen weiterhin ihr Glück. Nach dem ausgiebigen Zwei-Gänge-Menü besichtigen wir die Kyrkkåta von Staloluokta, die Kirchenkohte. Ein beeindruckender Bau. Innen alles nur grob bearbeitete Birken. Reisig auf dem Boden. Draußen Grassodenabdeckung. Kleine Fenster mit bunten, bleigefaßtem Glas. Wir lassen den Bau auf uns einwirken und verlassen dann das menschenleere Staloluokta, um mit unseren ergänzten Wasservorräten wieder auf unseren Hügel zurückzusteigen. Hier wird noch Logbuch geschrieben, aus dem fahrtenbericht 29 vorgelesen, ein Feuer gegen die Mücken und für eine Rauchvergiftung entzündet und geschlafen. Draußen scheint die Sonne immer noch. Wir hoffen, heute die Mitternachtssonne zu sehen und auch im Bild festzuhalten. Es gelingt.

Der dritte Fahrtabschnitt: Durchbruch nach Norwegen

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