"24 Stunden auf der Schiene" - eine ungewöhnliche Fahrt

der fahrtenschaft polaris

...weiter, immer weiter...

Das Ziel ist das Ziel

Es ist früher Morgen, Samstag, 31. 3. 2001, 7:10 Uhr. Im Osten kämpft sich langsam, rotgolden schimmernd die Sonne über den dunstigen und dampfenden Horizont. Ein paar Wolken verschleiern uns dabei ihren vollen Anblick. Das Land ist platt. Ein paar Wiesen hier, dazwischen Äcker, einzelne Höfe, Hecken und lange Zäune prägen das Bild. In das Licht der aufgehenden Morgensonne getaucht, sehen sie eigentümlich unecht aus. Nebelschwaden zwischen wenigen Bäumen. Tau auf dem Gras. Dem Auge des Betrachters wird nicht viel Abwechslung geboten. Trotzdem freuen wir uns nun auf einen anscheinend schönen Tag nach der langen, kühlen und unwirtlichen Nacht, die wir bereits hinter uns haben.

Wir, das sind sammler, glis, gulo und ramses, allesamt von der Fahrtenschaft Polaris unseres Stammes Romero. Und während wir dieses Wunder der aufgehenden Sonne, des Beginns eines neuen Tags miterleben können, sitzen wir nicht irgendwo vor unserer Kohte, sondern im RE24201 von Bielefeld nach Braunschweig. Die Szenerie rauscht hinter zerkratztem Glas an uns vorbei. Ein gutes Stück des Wegs haben wir bereits hinter uns, aber die meisten Kilometer noch vor uns.

"24h auf der Schiene", das ist eine Fahrt, wie wir sie bislang noch nicht durchgeführt haben. In 24 h möchten wir vier mit einem Wochenendticket der Deutschen Bahn (DB) für 40 DM ausgerüstet, möchlichst weit herumkommen in Deutschland. Bereits die Auswahl einer Route für die recht spontan geplante Unternehmung nimmt einiges an Zeit vor dem heimischen Internetanschluß in Anspruch, sollen doch verschiedene Routenvorschläge auf ihre Machbarkeit hin ausgetestet werden. Heraus kommt dabei dann die Möglichkeit, von Königswinter/Rhein nach Berlin und wieder zurück zu fahren. Mit dem Brandenburger Tor als geographischem Ziel ist damit ein attraktiver Punkt schnell gefunden. Werden wir die jeweiligen Anschlußzüge bekommen? Klappt es in Berlin in der kurzen Zeit, die uns zur Verfügung steht? Reicht es innerhalb der Gültigkeitsdauer des Tickets auch tatsächlich wieder bis nach Hause? - Die andere Zielsetzung, die wir uns bei dieser Fahrt gestellt haben, hat mit dem Erreichen bestimmter Punkte und dem aufstellen möglicher Streckenrekorde dagegen überhaupt nichts zu tun: 24h auf der Schiene, das bedeutet auch 24h Kontakt mit Mitreisenden. Wie verändert sich das Publikum und die Stimmung in den Zügen über einen gesamten Tag? Welche Einzelheiten sollen uns auf dem Weg begegnen? Was erleben wir? Wir sind gespannt.

0:23 Uhr: wir sitzen im Rhein-Wupper-Express in Richtung Köln. Von Königswinter aus haben wir die U/S-bahn ab 23:54 Uhr (Freitag) bis nach Bonn genommen und Glück gehabt, 3 Minuten reichten zum Umsteigen. Die Bahn war noch gut gefüllt: Nachtschwärmer auf dem Weg zu Feten und Diskos, zerrissens Papier und ausgelaufenes Bier auf dem Boden. Geruch nach U-Bahn und alten Sitzen. In Bonn an Gleis 1 war noch richtig Betrieb, fast wie am Tag. Jede Menge junges Volk auf dem Weg nach Köln. Das Freitagabend-Wochenendvergnügen beginnt jetzt erst. Von Müdigkeit ist in den Gesichtern nicht viel zu sehen, eher Freude und Ausgelassenheit prägt die Stimmung. Im Zug ständig Durchgangsverkehr. Das WC ist defekt, ein rot flackerndes Licht weist darauf hin. Auf dem Sitz neben uns ein Mann, Mitte 30, brauner knieelanger Mantel. Als einer der wenigen hier scheint er müde zu sein, hat sich lang gemacht. Musikberieselung aus überdimensionierten Kopfhöhrern. Die DB scheint auf Ruhe und Ordnung bedacht: der Schaffner ist nicht allein, wird von einer Sicherheitsstreife begleitet An seiner Arbeit findet er aber wohl heute nicht so rechten Spaß: recht unwirsch knipst er kurz nach Brühl zum ersten Mal unser Ticket ab. Natriumdampflampen werfen orange-gelbe Punkte durch die halbverspiegelten Fensterscheiben. Die Heizung ist deutlich zu hoch eingestellt, der Abfallbehälter angeflämmt.

In Köln: die Großstadt ist noch nicht ins Bett gegangen, wir können im Vorbeifahren in einige erleuchtete Wohnungen schauen. Die Reklametafeln der großen Geschäfte und Unternehmen blinken im Neonlicht. In Deutz haben wir gute 50 Minuten Aufenthalt und nutzen die Zeit, um an den Rhein zu gehen und hier ein paar nächtliche Fotos zu schießen. Die Heliodor passiert uns rheinaufwärts. Das zurückgehende Hochwasser schießt gurgelnd an den Pfeilern der Hohenzollernbrücke vorbei. Die frische Nachtluft tut gut, wir werden wieder wacher. Mich fröstelt es ab und zu sogar ein wenig.

Jetzt kommt die Ochsentour: da "normale" Bahnen der DB mitten in der Nacht nicht mehr fahren, sind wir auf eine weitere Verbindung von Deutz aus über Essen bis Dortmund per S-Bahn angewiesen. Die dunkelsten Stunden der Nacht verbringen wir so in den langsamsten und siffigsten Verkehrsmitteln (beschmierte Kunstledersitze, Werbung für die Messe „Jagd und Hund" an den Wänden) zusammen mit diversen angeheiterten oder betrunkenen, ungepflegten Typen, denen man freiwillig auch im Hellen sonst nur sehr ungern gegenübertreten würde. Teilweise haben sich diese schlafend auf die Sitze gelegt, teilweise befinden sie sich auch in „ernsthaften" Gesprächen miteinander über Themen, deren Sinn uns auch bei längerem Zuhören verschlossen bleibt. Wir haben unseren Spaß. Auch hier wieder Sicherheitspersonal, das die Waggons nach jedem Halt, und die gibt es oft, durchquert, um nach eventuellen Störenfrieden Ausschau zu halten. Bis auf gulo, der ein wenig in den Seilen zu hängen scheint, sind wir anderen eigentlich noch fit.

In Essen sind die Bürgersteige hochgeklappt, es ist 3:15 Uhr. Die Stadtreinigung macht sich daran den Bahnhofsvorplatz vom Müll des vergangenen Tages zu säubern und Raum für den Müll des kommenden Tages zu schaffen. Es ist dunkel und kalt. Ein netter Wind pfeift durch die verlassenen, neonbeleuchteten Gänge des Essener Hauptbahnhofs. Eine Spitzmaus hastet vor uns davon. Uns fröstelt und wir hören nicht auf, uns auf der Stelle zu bewegen. Ich ärgere mich, nicht einen Pullover eingesteckt zu haben.

Bis Dortmund ist der Waggon, in dem wir sitzen so gut wie leer: außer uns noch zwei angetrunkene Schläfer und einer Familie mit kleinem Kind aus Sri Lanka oder Indien. Auch uns überfällt nun ab und an die Müdigkeit. Jeder richtet sich ein, so gut es geht und döst ein wenig vor sich hin. In Dortmund haben uns dann endlich auch normale Verbindungen mit normalen Regionalzügen wieder. Der moderne Doppelstockzug RE 10001 ist schön eingerichtet und relativ sauber. Wir nutzen das große Platzangebot zum Weiterdösen. Dies klappt allerdings nur bis Hamm in Westfalen: drei schnatternde Personen reden wasserfallartig in einer nicht zu identifizierenden Sprache ohne erkennbare Unterbrechung aufeinander ein. Die Sprache ist witzig, ohne Betonung, ohne Satzanfänge oder -enden kommt sie daher, monoton, gleichmäßig. Das Gespräch will nicht enden. Mit unserem Schlaf ist es wohl vorerst nichts. sammler wird ein wenig aggressiv. Wir malen uns aus, worum sich das Gespräch wohl drehen könnte. Auch die automatische Computerstimme, die die nächsten Haltepunkte ansagt, sorgt dafür, daß wir nicht zu unserem Schlaf kommen. Schalke-Fans durchqueren gröhlend den Waggon.

Gegen 6 Uhr morgens, es ist noch dunkel, stehen wir vor dem Bielefelder Bahnhof und horchen in der hier herrschenden Stille der Frühe den ersten Vogelstimmen des jungen Tages. Es ist kalt und wir zwingen uns, um wieder wach zu werden, zu einem kurzen Spaziergang durch die leere Bielefelder Innenstadt. In Braunschweig steht die Sonne schon recht hoch am Himmel und wärmt uns in unseres Jujas gut durch. Während wir auf die Abfahrt des bereits auf seinem Gleis stehenden Zugs nach Magdeburg warten, mache ich noch ein paar Bahnhofsfotos. Trotz der frühen Stunde ist viel los auf den Bahnsteigen. Das Wochenendticket, mit dem die meisten Fahrgäste reisen, muß sich gut verkaufen, die Züge sind voll. Fast alle wollen wie wir Richtung Berlin. Bis jetzt hat ja alles gut funktioniert und wir hoffen, daß die Bahn sich bei unseren weiteren Verbindungen keine übermäßigen Verspätungen einfahren wird. Die ehemalige Grenze zwischen Helmstedt und Marienborn überqueren die meisten Mitreisenden umbewußt. Das letzte Mal, als ich hier durch gefahren bin, mußten wir noch elend lang warten, unsere Pässe begutachten lassen und Transitvisa ausgestellt bekommen. Heute fahren wir einfach durch. Kostenloser Koreanisch-Unterricht von der mitfahrenden Familie inbegriffen. So kommt die Bildung nicht zu kurz.

Und die Komik auch nicht: Die modernen Doppeldeckerzüge haben´s nämlich in sich, die geballte Technik. Schade, daß die Mitfahrer noch nicht immer so modern wie die Züge funktionieren, manchmal müssen sie erst darauf reinfallen um dazuzulernen. So auch im Fall der Automatiktoiletten: automatisch wird abgezogen, automatisch sprudeln ein paar ml Wasser ins Handwaschbecken und automatisch geht auch die Tür zu besagter Stätte des modernen Zeitgeistes auf und zu. Allein, wenn die Tür zu ist, so ist sie noch nicht abgeschlossen. Bei aller Automation ist dies leider immer noch der Kundschaft selber überlassen. Diese jedoch, auf die Maschienenwelt um sie herum vertrauend, weiß dies nicht immer, was das ein ums andere Mal zu interessanten Einblicken führen kann, wenn weitere blasengeplagte Fahrgäste ihrerseits das Örtchen der Entspannung aufsuchen möchten. Bilder wie für die „Versteckte Kamera" gemacht.

In Magdeburg müssen wir innerhalb einer unglaublich großen Masse von Fahrgästen, die sich aus dem Zug quält von Gleis 9 auf Gleis 6 wechseln, um den Anschlußzug nach Berlin zu bekommen. Unter einigen Fahrgästen kommt es zu gewisser Besitzanspruchspanik: wo ist mein Sitzpatz? Sie joggen , teilweise voll bepackt förmlich durch die Menge zum anderen Gleis. Wir trotten langsam hinterher und bekommen auch noch etwas zum Sitzen.

So langsam wird es für uns spannend. Es ist nicht mehr weit bis zum Bahnhof Zoo in Berlin. Potsdam ist bereits passiert, wir befinden uns in den Außenbezirken der Hauptstadt. Alte S-Bahnzüge vergammeln hier auf Abstellgleisen. Immer mehr Touristen sitzen im Zug, brüten über Berliner Kartenmaterial. Wir schmieden Pläne, wie wir am besten zum Brandenburger Tor kommen können. Unser Zeitrahmen ist knapp bemessen: genau eine Stunde nach Ankunft im Bahnhof Zoo fährt auch schon der Zug zurück in Richtung Heimat. Ein Zug später und es wäre uns nicht mehr möglich mit dem heutigen Wochenendticket zurück zu kommen.

Ankunft im Bahnhof Zoo ein wenig verspätet, raus aus dem Zug als erste, vor dem Strom der Mitreisenden, kurze Orientierung, sammler startet die Stoppuhr, für den Fall daß es zu lange dauert bis wir am Brandenburger Tor ankommen, müssen wir ja bereits vorher wieder umdrehen. U-Bahn Linie U2 Richtung Vinetastraße. Zum Glück müssen wir nicht lang warten. Es ist heiß, stickig, die Bahn ist voll mit Touris. Die Zeit verrinnt, klammheimlich schauen wir ständig auf die Uhr. Könnte noch klappen, wenn.... Potsdamer Platz: raus aus der Bahn, ans Tageslicht, hier wird noch jede Menge gebaut, mit einem Touristenfesselballon von SAT1 kann jeder, der möchte und dafür bezahlt, Europas größte Baustelle aus der Luft betrachten. Wir haben weder Zeit noch Lust uns damit zu beschäftigen. Schnellen Schrittes auf der Ebert-Straße Richtung Brandenburger Tor, fragende Blicke zur Uhr. Wir müssen laufen, rennen. Zwischen den Touris und den Andenkenständen mit nachgemachten Souvenirs aus Beständen der Roten Armee bahnen wir uns einen Weg.

Und dann sind wir da: Brandenburger Tor, Affe runter, Kamera raus, Fotos gemacht. Leider ist das Tor selber zur Zeit abgedeckt, wird es doch renoviert. Schade. Affe wieder über die Schulter und zurück zur U-Bahnstation gejoggt. Wir kommen ganz schön aus der Puste, es ist heiß, wir haben ja auch noch alles an, Juja, Kluft. Der Schweiß rinnt in Strömen. Besonders sammler ist arm dran. Auch jetzt ist das Glück mit uns: die nächste Bahn kommt in 2 min. Wir haben es geschafft, sind am Bahnhof Zoo rechtzeitig, der Zug steht allerdings schon auf seinem Gleis. Nach dieser Anstrengung haben wir jetzt endlich Zeit, uns der warmen Klamotten zu entledigen, ein wenig zu trinken und zu essen. Zumindest das Ziel das Brandenburger Tor zu erreichen haben wir geschafft. Jetzt muß nur noch die Heimfahrt klappen.

Zurück durch die Brandenburger Provinz. Wir nehmen zumindest zunächst nicht den gleichen Rückweg wie auf unserer Hinfahrt. Die meisten Fahrgäste hier im Osten sind Jugendliche. Und die meisten dieser Jugendlichen, auch wenn sie deutlich unter 16 Jahren alt zu sein scheinen, laufen ganz offen und ungeniert mitten am helligten Tag mit 0,5 l Bierdosen durch die Gegend. Es wir eifrig getrunken. Wir sind ein wenig erstaunt, daß sich hier niemand daran zu stören scheint oder sich dabei etwas denkt. Es ist einfach normal, gehört dazu. Was uns noch auffällt, ist die hohe Anzahl glatzköpfiger, springerstiefel- und bomberjackenbekleideter Jugendlicher. Die „nationalen" Farben schwarz-weiß-rot sind fast immer auch mit dabei. Auch dies scheint zur Normalität dazu zu gehören. Ein zumindest unschönes Bild.

16:38 Uhr: wieder sind wir in Braunschweig. Hier kommen wir zurück auf die Hinstrecke, wobei uns auf dem Rückweg die S-Bahn-Gurkerei durch das Ruhrgebiet erspart bleiben wird. Wir genießen gut 1,5 h Aufenthalt im Park vor dem Bahnhof beim Abendessen und Ausspannen. Neben uns in wenigen Metern Entfernung eine große bunte Gruppe von Punks. Zwar ist der bisherige Tag durch das ständige Auf und Ab unserer Verfassung geprägt, aber wir merken schon, daß uns die letzte Nacht und ihr Schlaf deutlich fehlt. So langsam verlassen uns die Kräfte. Trotz allem sind wir noch zu Scherzen aufgelegt. Und wir trösten uns mit der Aussicht, daß es bis nach Hause, unter die Dusche und ins Bett ja nur noch ein paar Stunden hin ist. Die restliche Zeit in den Zügen nehmen wir nicht mehr so aufmerksam in uns auf, wie bisher: Dösen, Langmachen und Erzählen stehen im Vordergrund. Das ist auch ganz gut so, es scheint ein wenig schneller zu gehen. Gegen 0:40 Uhr am Sonntag morgen sind wir dann zurück in Königswinter, es hat alles so funktioniert, wie wir uns das vorgestellt haben. Wir sind froh über das Erreichte und daß es jetzt ins Bett geht. Jeder von uns würde diese Fahrt nochmal machen.

Statistik:
Fahrtkosten pro Person: 10 DM
zurückgelegte Kilometer pro Person (ca.): 1500
Kosten pro Personenkilometer (ca.): 0,7 Pfennig
Umsteigen:14 Mal
Fahrzeit total: 24 h 45 min
davon Aufenthalt: 5 h 59 min auf diversen Bahnhöfen (=24 %)

Die Fotos auf dieser Seite sind von sammler (Frederik Euskirchen) und ramses (Kai Krauthausen).


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